MEDICAL HUMANITIES
Autor: Rector emeritus Em.Univ.-Prof. Dr. Dr.h.c. Wolfgang Schütz
Mit dem Begriff Medical Humanities wird ein multi- und interdisziplinäres Feld der Medizin bezeichnet, das sowohl die Naturwissenschaften, als auch die Geistes‑ und Sozialwissenschaften sowie die Künste umfasst. Das Konzept der Medical Humanities berücksichtigt in der Medizin auch die sozialen und kulturellen Komponenten, untersucht ihre Zusammenhänge und bindet ihre Erfahrungen ein. Die in vielen Ländern schon etablierte Disziplin erlaubt den Blick über die naturwissenschaftlich geprägte und Technologie-bestimmte Medizin hinaus, zum Beispiel auf den kulturell geprägten Umgang mit Krankheit und Tod.
Drei wesentliche Gründe lassen einen Fokus auf Medical Humanities auch in Österreich als notwendig erscheinen:
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- Medizin wird in den Pflichtcurricula in Form streng strukturierter Module gelehrt, die nur wenig Möglichkeiten bieten, auch deren Vernetzung mit Geistes‑ und Sozialwissenschaften sowie mit den Künsten zu beleuchten. Diese Strukturierung erwies sich im Rahmen der Erstellung des Grundkonzepts für die derzeitigen Curricula – im Zeitraum 1998–2002 – als notwendig, wo noch freier Zugang mit über 4.000 Studienanfängern herrschte (weit weniger als die Hälfte beendeten ihr Studium). Seit dem Jahr 2006 finden aber Aufnahmetests für eine vorgegebene Zahl von derzeit 1.620 Studienplätzen statt, die nun durchwegs von Studierenden mit hoher Eignung für ein Studium belegt sind. Damit den zukünftigen ÄrztInnen ein interdisziplinäres Medizinstudium nach internationalen Standards angeboten werden kann, muss die bisherige strenge Strukturierung gelockert werden. Zusätzlich sollen Medical Humanities auch ein Lehr‑ und Forschungsfeld für kultur- und sozialwissenschaftliche Studienrichtungen werden.
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- Das Credo der „Evidenz-basierten Medizin“, die den jeweiligen wissenschaftlichen Goldstandard für die Heilung einer Krankheit definiert, wechselt immer mehr zu einem Credo der eng mit der Digitalisierung einhergehenden „Personalisierten Medizin“, wo die Heilung des Kranken im Mittelpunkt steht. Ihr Schwerpunkt liegt auf der genetischen Ausgestaltung (dem Genom) der PatientInnen, wobei so genannte Biomarker Auskunft über den Zusammenhang einzelner Gene sowie über Zellmerkmale vermitteln. Viele genetische Daten sind aber von unklarer Relevanz oder erbringen für die PatientInnen gar belastende Informationen ohne Eingriffsmöglichkeit. Auch droht ein Kontrollverlust für die missbräuchliche Verwendung von PatientInnendaten von Arbeitgebern und Versicherungen. Die Bezeichnung „personalisiert“ selbst ist irreführend, denn diese Medizin hat nichts mit mehr persönlicher Zuwendung den PatientInnen gegenüber zu tun, sie basiert vielmehr auf einer Hochtechnologie, die dem Arzt-Patienten-Verhältnis nicht förderlich ist. „Personalisierte Medizin“ oder „Präzisionsmedizin“ wird zunehmend zur „Biomarker-Stratified Medicine“. Die Begriffe „Krankheit“ und „Gesundheit“, die einem soziokulturellen Wandel unterworfen sind, müssen daher ständig neu definiert werden.
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- Die Spitäler in Europa entwickeln sich immer mehr zu globalen Orten. So haben auf den Ambulanzen im Allgemeinen Krankenhaus der Stadt Wien (AKH) bereits > 60% aller PatientInnen einen Migrationshintergrund, etwa 20% sprechen gar nicht oder nur sehr gebrochen deutsch. Dieser Anteil an Menschen mit Migrationshintergrund in den Spitalsambulanzen ist deutlich größer als deren Anteil innerhalb der Wiener Bevölkerung (43%) bzw. der gesamtösterreichischen Bevölkerung (28%). Es sind PatientInnen mit teilweise niedrigem Bildungsgrad, mit Gewalterfahrung, von ländlicher Herkunft und mit patriarchalischen Wertenormen, die Religion hat einen hohen Stellenwert. So entstehen Konflikte mit den modernen Krankheitsauffassungen von ÄrztInnen, Pflegekräften und PatientInnen aus verschiedensten Kulturkreisen.
Medical Humanities leisten für die Medizin einen wesentlichen Beitrag zur Responsible Science-Initiative der EU. „Responsible Science“, im EU-Kontext auch als „Responsible Research and Innovation“ (RRI) bezeichnet, bindet die Gesellschaft aktiv in Forschungs- und Innovationsprozesse ein, um aktuelle Herausforderungen effektiver und im Einklang mit den Werten, Erwartungen und Bedürfnissen der Gesellschaft bewältigen zu können. Ziel der Medical Humanities ist, in medizinischen und Gesundheitsberufen einen verantwortungsvollen Umgang mit dem technisch-wissenschaftlichen Fortschritt zu vermitteln und für die Bedeutung eines empathischen Arzt-Patienten-Verhältnisses in der Behandlung eines multikulturellen PatientInnen-Kollektivs zu sensibilisieren.
Veranstaltungshinweis:
Österreich liest – Treffpunkt Bibliothek: Buchausstellung: „MEDICAL HUMANITIES“
Virtuelle Buchausstellung „MEDICAL HUMANITIES“ »
Buchausstellung zum Thema „MEDICAL HUMANITIES“
https://ub-blog.meduniwien.ac.at/blog/?p=33722